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Wie viele Opfer heute verlangt eine bessere Zukunft morgen?

„Lasse nicht zu, dass deine Selbstverwirklichung
von fremden Zielsetzungen abhängt,
und lasse nicht zu, dass die Wahl anderer,
so grandios und attraktiv sie auch scheinen mag,
deine Richtung bestimmt.“
(Jorge Bucay)

In den letzten paar Wochen bin ich immer wieder in Gesprächen mit dem Thema der Zukunft oder besser gesagt dem „Zukunft verbauen“ konfrontiert worden.

Was soll eigentlich „Zukunft verbauen“ bedeuten? Wie erfahre ich, ob ich mir oder meinem Kind die Zukunft ruiniert habe? Wann genau ist diese Zukunft, also wann beurteile ich, ob ich mir oder meinem Kind in der Vergangenheit die Gegenwart, die damalige Zukunft, verbaut habe? Und umgekehrt, was erwarte ich von der Zukunft und welche Anforderungen soll die perfekte Zukunft erfüllen? Wie viel bin ich bereit, in der Gegenwart in die perfekte Zukunft zu investieren? Oder härter ausgedrückt, wie viel bin ich bereit Abstriche am Sein in der Gegenwart zum erhofften Wohle in der Zukunft zu machen? In die Zukunft, die doch so ungewiss ist. Angesichts der Tatsache, dass jedes Lebewesen irgendwann stirbt und der Zeitpunkt des Todes ungewiss ist, schaffe ich es diese erstrebenswerte Zukunft zu erleben?

Wir Menschen wünschen uns und unseren Kindern stets ein gutes Leben in der Zukunft. In diesem Bestreben machen wir bestimmte Sachen in der Gegenwart, oft über einen längeren Zeitraum, die uns keinen Spaß machen und oft stressig und unangenehm sind. Alles zum Wohle der Zukunft.

Das Rennen um den Sonnenplatz beginnt sehr früh im Leben, oft noch vor der Schule. Die Frühförderung der Kinder durch Besuch verschiedener Kurse fängt bereits im Kindergartenalter an. Manchen Kindern bereiten solche Frühförderangebote Spaß, das betrifft aber bei weitem nicht alle jungen Menschen. Oft fühlen sich die Eltern durch gesellschaftlichen Druck verpflichtet, die eigenen Kinder zu sportlichen, musikalischen oder künstlerischen Aktivitäten zu schicken, damit ihre Kinder keinen Nachteil im Wettbewerb mit den anderen haben.

Dann kommt die Schule. Lernen und Bildung sind ohne Frage sehr wichtig, aber die Frage, die man sich stellen muss, ist, zum welchen Preis. Der Schulbesuch dauert viele Jahre, macht vielen jungen Menschen keinen Spaß und ist mit sehr viel Stress verbunden. Der Stress entsteht durch den Druck durch regelmäßige Bewertung und Beurteilung der Leistungen durch Tests, Prüfungen und durch den damit verbundenen Vergleich mit den Schulkameraden. Dieser Druck und der verursachte Stress reichen weit in die Familien hinein. Wenn die Kinder in der Schule „nicht gut“ sind, dann werden sie oft durch Eltern und Lehrer angetrieben, noch mehr zu machen und noch härter zu arbeiten. Wenn dafür die reguläre Schulzeit nicht ausreicht, sollen Kinder in der Ferienzeit weiterlernen, um die Lernlücken zu schließen, nach dem altbewährten Katastrophenrezept „Mehr desselben!“.

Die Notwendigkeit dieser Anstrengungen wird oft wie folgt begründet: „Du musst es machen, um dir deine Zukunft nicht zu verbauen.“, bei Widerstand kommen Argumente wie „Deine Meinung ist nicht wichtig, wir wissen es besser!“, oder „Wenn du dich nicht genug anstrengst, wird nichts aus dir.“ Aus Sicht der Erwachsenen liegt solchen Aufforderungen selbstverständlich das „Wir meinen es doch nur gut mit dir“ zugrunde. Die Förderung der jungen Menschen durch außerschulische Aktivitäten bleibt zusätzlich zur Schule obendrein bestehen. Und so lernt man sehr früh im Leben, dass man für seine Zukunft seine Gegenwart opfern muss. Dazu sagt Gabor Maté: „Die Wertschätzung der Leistung programmiert Kinder allerdings nur darauf, Anerkennung von außen zu suchen – und zwar nicht dafür, wer sie sind, sondern dafür, was sie tun, dafür, was andere von ihnen verlangen. Dies ist nur noch ein weiteres Hemmnis für die Entstehung eines gesunden Selbst.“

Nach der Schule kommt die Ausbildung oder das Studium. Die Glücklichen wissen was sie in ihrem Leben gerne machen wollen, aber sehr viele junge Menschen haben nach der Schule keine Vorstellung davon, was sie mit ihrem Leben anfangen wollen und was Ihnen Spaß macht. Nehmen sie einen Ausbildungs- oder Studienplatz womöglich auf äußeren Druck hin an, quälen sie sich jahrelang mit den Ausbildungs- bzw. Studieninhalten, die sie nur wenig interessieren. Das Mantra, das sie dabei „durchhalten“ lässt, bleibt „für meine Zukunft“.

Nach der Ausbildung bzw. dem Studium findet man (hoffentlich) einen Job. Ist nun der Zeitpunkt eingetreten, an dem man die vergangenen Aufopferungen auf ihren Erfolg hin auswertet? Ist nun die „bessere Zukunft“ erreicht? Vermutlich nicht, denn wenn man am Anfang der Berufslaufbahn steht, hat man noch keine Arbeitserfahrung. Junge Berufsanfänger werden schlecht bezahlt, müssen oft Überstunden machen und somit ihre Freizeit opfern (das haben sie immerhin schon in der Schule gelernt), um sich zu entwickeln und zu beweisen. So arbeitet man viel und hart für die Karriere, für eine „bessere Zukunft“, die irgendwo am Horizont scheint.

Irgendwann hat man Erfahrung gesammelt und einige Stufen auf der Karriereleiter genommen, einige schaffen es sogar in Führungspositionen. Je wichtiger man auf der Arbeit wird, desto weniger (Frei-)Zeit hat man für sich. Man nimmt die Arbeit mit nach Hause und ist 24x7 inklusive im Urlaub erreichbar. Bleibt da noch genug Zeit für Privatleben und Familie? Vielleicht ja, vielleicht nein. Es hängt von den Prioritäten, die man gesetzt hat, ab. Hat man eventuell jetzt diesen magischen Moment, die „bessere Zukunft“ erreicht? Und die Antwort lautet wieder nein. Man ist im Hamsterrad der Arbeitswelt gefangen, lebt man von einem Urlaub bis zum nächsten, und irgendwann wünscht man sich nur noch die Ruhe.

Aha, also ist vielleicht die Rente das Ziel der „besseren Zukunft“, der Moment der Ernte? Wenn man sein ganzes Leben lang hart gearbeitet hat, besitzt man dann viel Geld oder bekommt eine auskömmliche Rente und kann sein Leben endlich genießen? Für manche Menschen mag das stimmen, aber bei vielen ist es nicht der Fall. Nicht jeder erreicht das Rentenalter, nicht jeder bekommt eine gute Rente (oft reicht die Rente kaum zum Überleben), nicht jeder erreicht sein Rentenalter gesund, und manche haben so viel gearbeitet, dass sie keine Freunde oder Familie haben, mit denen sie das Leben endlich gemeinsam genießen könnten.

Und dann stellt man sich die Frage, ob die ganzen Opfer im Laufe des Lebens es wert waren? Der renommierter Psychologe und emeritierte Professor für Psychologie am Knox College Tim Kasser sagt: „Die Forschung belegt übereinstimmend: je mehr die Menschen materielle Ziele anstreben, desto geringer sind ihr Glücksempfinden und ihre Lebenszufriedenheit und desto weniger angenehme Gefühle erleben sie im Alltag. Auch Depressionen, Angstzustände und Substanzmissbrauch sind bei Menschen, die die Ziele, die von der Konsumgesellschaft unterstützt werden, schätzen, tendenziell häufiger zu beobachten.“

Wenn die bessere Zukunft immer unerreichbar bleibt, vielleicht lohnt es sich den Blickwinkel zu ändern und sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Um sich das Leben mit einer anderen Perspektive besser vorstellen zu können, kann man seine Phantasie spielen lassen und sich folgende Fragen beantworten: was wäre wenn

  • wir mit unseren Kindern in der Gegenwart lebten und darauf schauten, dass es uns und den Kindern heute gut geht?
  • wir auf unsere aktuellen Bedürfnisse achteten und diese im Hier und Jetzt respektierten, und nicht erst in x Jahren?
  • wir unser Leben so lebten, wie wir es für richtig halten und nicht so, wie es Andere von uns erwarten?
  • Zwanghaftes Streben nach Perfektion in der Familie spielt ebenfalls eine große Rolle.
  • wir mit dem Leben unter permanentem Druck aufhörten?
  • wir lernten unsere eigenen Grenzen zu kennen und diese zu respektieren?
  • wir unser Leben mit den Sachen bereicherten, die uns Spaß machen?

Man sagt: „Das Leben ist kein Ponyhof“, „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“, „Schaffe schaffe, Häusle baue“ usw. Aber auch „man lebt nur einmal“ und jeder von uns ist der Gestalter dieses seines Lebens. In jeder Situation gibt es mehrere Wege, die man gehen kann. Manchmal muss man eine Weile suchen und offen für Neues sein, um den anderen, besseren Weg zu finden. Die Entscheidung trifft letztendlich jeder für sich selbst. Dazu Gabor Maté: „Das Auftauchen neuer Wahlmöglichkeiten anstelle alter, vorprogrammierter Dynamiken ist ein sicheres Zeichen dafür, dass unser authentisches Selbst wieder online geht.“

Aus meiner Sicht ist es wichtig, sich stets die persönlichen Prioritäten im eigenen Leben vor Augen zu halten. Das kann man zum Beispiel erreichen, indem man sich immer wieder fragt:

  • Was ist das Wichtigste für mich: ich, meine Familie, meine Freunde, meine Hobbys oder die Arbeit?
  • Was ist wertvoller: gute und liebevolle Beziehungen heute oder eine bessere Zukunft?

Wenn man sich bewusst für die Arbeit (auch nach dem Feierabend und im Urlaub) entscheidet, dann ist das OK. Aber wenn man sich für sich selbst, oder die Familie entscheidet, und trotzdem die Arbeit in seiner Freizeit nicht loslassen kann, dann sollte man sich später nicht wundern, wenn die Familie oder Freunde sich von einem früher oder später entfremden.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist zu lernen, die Signale des eigenen Körpers wahrzunehmen und diese zu respektieren, anstatt bis zum Umfallen zu arbeiten. Der Körper ist unser Verbündeter und zeigt uns oft sehr deutlich, wann er nicht mehr kann und eine Pause braucht.

Wie wäre es wenn wir heute, jetzt und hier damit anfangen unser Leben zu leben? Diejenigen, die eine erfüllende Gegenwart leben, können sich an eine schöne Vergangenheit erinnern und gestärkt, gelassen und zufrieden in eine gute Zukunft gehen. Diejenigen, die im Jetzt das Leben genießen, können dann am Ende des Lebens mit einem Lächeln zurückschauen und sich darüber freuen, dass sie gelebt und nicht nur funktioniert haben. Wie Jorge Bucay in einer seiner Geschichten sagt: „Leser – wer auch immer du sein magst: Ich konnte mir mit all meinem Geld keinen einzigen Tag Leben erkaufen. Gib acht, was du aus deiner Zeit machst. Sie ist dein größter Schatz.“

Und die Sorge um die ruinierte Zukunft? Vielleicht ist es das Beste, was jeder für eine „bessere“, aber dennoch ungewisse Zukunft tun kann, in der Gegenwart die in ihm angelegten Potenziale maximal zu entfalten? Das erscheint mir jedenfalls als ein Weg, die zu gestaltende Gegenwart mit der ungewissen Zukunft zu versöhnen.

Julia Karrasch, 31. August 2023